Die Peripherie des Extremismus auf YouTube | Die Blase


YouTube ist weit mehr als nur eine Upload-Plattform für Videos: YouTube ist ein soziales Netzwerk und insofern in seiner Wirk- und Funktionsweise nur schwer zu durchschauen. User*innen können auf der Plattform auf vielfältige Arten miteinander interagieren. Neben dem Videoupload auf dem eigenen Kanal, können fremde Kanäle abonniert und empfohlen und Videos kommentiert und bewertet werden, um nur die Kernfunktionen zu nennen.

Insbesondere wenn Radikalisierungsprozesse auf einer Plattform wie YouTube untersucht werden sollen, ist es unabdingbar nachvollziehen zu können, wie sich entsprechende Kanäle und deren Inhalte in diesem Interaktionsgeflecht zueinander und zu ihrer Umgebung verhalten. Um sich dieser Problemstellung nähern zu können, wurde mithilfe einer Netzwerkanalyse untenstehender Netzwerkgraph entwickelt.

Methodik: Entstehung des Netzwerkgraphen

In einem Netzwerkgraphen werden einzelne Akteur*innen durch einen Knoten (Punkte) und deren Verbindung zueinander durch Kanten (Linien) dargestellt. Je stärker die Verbindung zwischen zwei Knoten ist, desto näher liegen die Knoten beieinander. Die solchen Netzwerkgraphen zugrundeliegende Idee ist nicht neu in den Sozialwissenschaften, erfuhr aber in der jüngsten Vergangenheit einen erheblichen Bedeutungszuwachs. Schließlich lassen sich mit ihrer Hilfe komplexe Strukturen in der Online-Kommunikation veranschaulichen.

Die Präzision solcher Netzwerkanalysen hängt erheblich von der Qualität des verwendeten Datensatzes ab. Kanäle, die häufig von denselben Zuschauer*innen geschaut werden, sollen im resultieren Graphen eine stärkere Verbindung zueinander haben, also näher beieinander liegen. Solche, die sich nur selten die gleiche Zuschauerschaft teilen, weiter auseinander. Allerdings verbietet YouTube, unter anderem aus Datenschutzgründen, einen direkten Zugriff darauf, welcher User*innen sich welches Video angeschaut haben.

Worauf YouTube allerdings Zugriff gewährt, sind Informationen darüber, welche User*innen welche Kanäle abonniert haben. Da Abonnements manuell getätigt werden müssen und in aller Regel zumindest ein gewisses Interesse an einem Kanal widerspiegeln, sind diese ein guter Indikator, um Verbindungen zwischen der Zuschauerschaft relevanter Kanäle zu verdeutlichen.

Mithilfe verschiedener Python-Skripts wurden über YouTubes Programmierschnittstelle (API) möglichst viele User*innen ausfindig gemacht, die zunächst ihre Abonnements öffentlich teilen und weiter einschränkend mindestens einem der zuvor mit Hilfe von qualitativen Methoden identifizierten 25 populärsten deutschsprachigen Kanälen eines Clusters folgen, das wir vorläufig mit dem Arbeitsbegriff „Peripherie des Extremismus“ bezeichnen und über dessen Kanäle stellenweise islamistische bzw. salafistische oder fundamentalistische Inhalte verbreitet werden, allerdings keine expliziten Gewaltaufrufe erfolgen. Die zweite Einschränkung war notwendig, damit der resultierende Netzwerkgraph nicht ausufernd groß wird und ein unmittelbarer Bezug zu der Peripherie bestehen bleibt. Nach entsprechenden User*innen suchten die Skripts in den Kommentaren unter den Videos der 25 Kanäle (Seed-Channels), denn dort ist die Chance, entsprechende Abonnent*innen zu finden am größten.

11589

User*innen bilden mit ihren Abonnements die Grundlage des Netzwerkgraphen

2422333

Abonnements haben sie getätigt

604238

verschiedene Kanäle teilen sich die Abonnements

1060

Kanäle sind im fertigen Netzwerkgraph dargestellt

So konnten 11.589 User*innen ausgemacht werden, die den beiden Kriterien entsprachen. Diese User*innen haben 604.238 verschiedene Kanäle abonniert, die unmöglich alle in einem Graphen untergebracht werden können. Der fertige Graph stellt deshalb nur die 1.060 am häufigsten abonnierten Kanäle dar, also nur solche mit mehr als 200 Abonnenten aus der ausgemachten Gruppe. Die Verbindung (Kante) zwischen zwei Kanälen A und B wurde kalkuliert, indem der Anteil derjenigen Abonnenten von A, die auch B abonniert haben, mit dem Anteil der Abonnenten von B, die auch A abonniert haben, addiert wurde. Haben also alle Abonnenten von A auch B abonniert und alle Abonnenten von B auch A abonniert, erreicht die Verbindung ihren Maximalwert von 200 %, wobei alle Zwischenabstufungen bis 0 % möglich sind. Eine Software zur Graph-Erstellung renderte die Verbindungen.

Auswertung: Die Kanäle der Peripherie bilden ein abgeschottetes Cluster

Die Netzwerkanalyse zeigt, dass die 25 größten Kanäle der Peripherie (rot) ein unabhängiges Cluster bilden – deutlich erkennbar auf der linken Seite der Karte. Dies bestätigte die Gruppenauswahl an Kanälen durch eine vorausgegangene Recherche. Keiner von den Kanälen steht deutlich abseits von den anderen. Folgt eine Person einem der Kanäle aus dem Cluster, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie auch einem weiteren aus der Auswahl folgt.

Die recherchierten Kanäle mit einem hohen Anteil an als salafistisch bzw. Islamistische einzuordnenden Inhalten bilden ein eigenständiges Cluster ganz links im Netzwerkgraphen.

Die Gruppe der Kanäle auf der linken Seite der Karte scheint relativ geschlossen beziehungsweise anhand der Abonnements gegenüber „dem restlichen YouTube“ abgrenzbar zu sein. Innerhalb des Clusters finden sich, so ergab es auch eine manuelle Überprüfung, ausschließlich Uploader, die ebenfalls in das Schema der Peripherie des Extremismus passen. Einige von ihnen waren den Autoren schon vorher bekannt (gelb), viele aber auch nicht, wie zum Beispiel syntaxDE – Der Tod genügt als Ermahnung. Die Methode, mittels Netzwerkanalyse ausgehend von 25 Kanälen weitere relevante Akteur*innen einer Peripherie des Extremismus auszumachen, zeigt sich damit als fruchtbar, gerade auch dann, wenn z.B. im Fall von syntaxDE der Kanalname in keiner Weise einen Hinweis auf relevante Inhalte gibt. In zukünftigen Projekten ließe sich dieses Vorgehen wiederholen und so das Auffinden neuer Akteur*innen automatisieren, eine qualitative „manuelle“ Nachkontrolle vorausgesetzt.

Auffällig ist, dass im Großen und Ganzen die Abonnent*innen nicht erkennbar zwischen verschiedenen inhaltlichen Ausprägungen oder ideologischen Hintergründen der Kanäle im Peripheriecluster unterscheiden, sondern stattdessen Verbindungslinien kreuz und quer zwischen den Kanälen des Clusters entstanden sind. Innerhalb des identifizierten Clusters einer Peripherie des Extremismus sind hinsichtlich des User*innen-Verhaltens zunächst keine Untergruppierungen erkennbar, obwohl die entsprechenden Kanäle nicht immer eine einheitliche Meinung vertreten.

Empfehlungen zwischen Kanälen des Clusters untereinander

Empfehlungen zwischen Kanälen des Clusters untereinander

Einige der Kanäle bewerben sich offensiv gegenseitig, während andere wie Generation Islam oder Macht‘s Klick? nicht ersichtlich in Kontakt mit anderen Kanälen stehen. Die obenstehende Abbildung verdeutlicht mithilfe von Pfeilen, wer wen empfiehlt und wer nicht von anderen Kanälen aus dem Cluster empfohlen wird. Pierre Vogel zum Beispiel verlinkt neben seinen Zweit- und Dritt-Accounts auch bestimmte andere Kanäle wie Föderale islamische Union und warum-christ. Dem Großteil der Zuschauer*innen werden solche Verbindungen und möglicherweise nur schwer auszumachende inhaltliche Differenzen bei der Auswahl ihrer Abonnements nicht bewusst sein.

Das Umfeld: Wen abonnieren Abonnent*innen außerhalb des Peripherieclusters?
Oben rechts in der Netzwerkkarte finden sich Musik-Kanäle

Neben dem Cluster einer Peripherie des Extremismus links im Graphen lassen sich noch weitere Gruppen identifizieren. Oben rechts finden sich beispielsweise gehäuft Musiker*innen wie MERT und BUSHIDO und in der Mitte primär Infotainment-Kanäle wie GalileoMade My Day und bekannte YouTuber*innen wie Julien Bam und Concrafter | Luca. Deutlich erkennbar ist, dass diese kaum so abgegrenzt stehen wie das Peripheriecluster links. Stattdessen gehen die Gruppen Musik und Infotainment fließend ineinander über, wie übrigens die gesamte Netzwerkkarte abseits des Spektrums des Peripherieclusters. Die extremistischeren Kanäle bilden also nicht nur inhaltlich eine Peripherie, sondern gemeinsam mit ihren Abonnent*innen auch den „Rand“ der deutschen YouTube-Landschaft.

Fließend geht das Musik-Cluster in Richtung Mitte der Karte in ein Infotainment-Cluster über

Umso mehr rücken damit die Kanäle in den Fokus, die dennoch die Brücke zwischen dem Cluster auf der linken Seite und der restlichen YouTube-Landschaft schlagen.  Diese Kanäle sind vor allem Botschaft des Islam und Macht’s Klick? mit zahlreichen Verbindungen (Kanten) in beide Richtungen. Anhand der Netzwerkanalyse lässt sich die These aufstellen, dass diese beiden Kanäle eine entscheidende Position einnehmen, neue Zuschauer*innen für noch extremere Inhalte zu gewinnen. Nicht nur sind die beiden zwei der erfolgreichsten YouTuber im Cluster (nach Zuschauerzahl), sie zählen auch aufgrund ihres leicht konsumierbaren Inhalts und der reizvollen Bildsprache zu den intuitiv ansprechendsten.

Die Kanäle Botschaft des Islam und Macht’s Klick? bilden als Brückenkanäle einen Übergang zwischen dem Cluster und der restlichen YouTube-Landschaft

Geschlechtsspezifische Aufspaltung des islamistisch-peripheren Umfelds

Spannend ist das vergleichsweise alleinstehende Cluster oben in der Karte. Dieses Cluster spricht – traditionelle Rollenbilder vorausgesetzt – ein vermehrt weibliches Publikum an. Tatsächlich trennt der Graph Kanäle von oben nach unten nach traditionell-geschlechtsrelevanten Themen. Gebildet wird das Cluster oben fast ausschließlich von weiblichen YouTuberinnen, die der Beauty-/Lifestyle-Ecke zugeordnet werden können. Auch populäre Kanäle wie BibisBeautyPalace und Dagi Bee sind dabei. Oben rechts geht das Cluster dann in den Themenbereich Musik über. Den Übergang bilden vor allem Künstlerinnen wie Ariana GrandeRihanna und Namika. Je weiter man sich nach unten bewegt, desto mehr männliche Künstler finden sich.

Ganz oben in der Netzwerkkarte finden sich Beauty- und Lifestyle-Kanäle

Während die Mitte abseits des Musik-Clusters schwieriger einzuordnen ist, finden sich ganz unten im Graphen ausschließlich stereotypische „Männer-Themen“: Games, Let’s Plays, Technik und Computer (mit Kanälen wie PC-WeltGameStarRockstar GamesTechtastisch | Experimente und Lifehacks). Selbstverständlich steht es allen User*innen unabhängig ihrer Geschlechtszuordnung zu, Videos aus jeglichen Clustern zu konsumieren, dennoch ist die Aufteilung in einen traditionell weiblich konnotierten Pol oben und einen traditionell männlich konnotierten Pol unten auffällig. Insbesondere in dem Kontext, in dem die Netzwerkkarte anzusiedeln ist, scheint dieses Rollenverständnis markant.

Ganz unten in der Netzwerkkarte finden sich Technik- und Let’s-Plays-Kanäle

Geschlechtergerechte Ansprache der Zielgruppe scheint also von großer Bedeutung zu sein. Die Verbindungslinien zwischen dem Beauty-/Lifestyle-Cluster oben nehmen einen anderen Weg als die unteren. Oben führen sie kurioserweise von zunächst YouTuberinnen – ohne unmittelbaren islamisch-spezifischen Inhalten, aber zumindest mit einem türkischen oder arabischen Hintergrund – über eine ganze Gruppe an Kanälen wie Kikis Kitchen, Meinerezepte, Atlas Küche, AhmetKocht, Nefis Yemek Tarifleri, die das Thema arabische Küche aufgreifen und zumindest teilweise muslimische Inhalte verbreiten oder vorleben und gleichzeitig zum beobachteten Cluster führen. Dazwischen finden sich noch vereinzelte junge Muslimas wie Eurasian Muslima oder Salsabil al-Almaniya, die ihren muslimischen Lebensalltag in Vlogs beschreiben, und trotz vergleichsweise geringer Reichweite als weibliche Vorbilder für Zuschauer*innen fungieren können.

Die Verbindung oben rechts zwischen Beauty-Cluster Richtung des Cluster von Interesse bilden Kanäle mit Kochrezepten

Dass sowohl für junge Deutsche mit Migrationshintergrund aus dem türkisch oder arabischen Raum das Essen und die Rezepte der Vorfahren ein Weg sind, um sich (wieder) dem Islam anzunähern, als auch für Menschen, die konvertieren möchten, die Küche muslimisch-geprägter Länder ein erster Anlaufpunkt sein kann, ist selbsterklärend. Dass aber nach ersten Berührungspunkten mit dem Islam abgesehen von vereinzelten Kanälen wie Eurasian Muslima und Salsabil al-Almaniya niemand die entsprechende Zuschauer*innengruppen abseits reichweitenstarker Kanäle aus der Peripherie inhaltlich abholt, zeigt einen konkreten Handlungsbedarf in der Prävention.

Abseits des Beauty-/Lifestyle-Clusters oben sind die Verbindungen zum Cluster der Peripherie diffuser nachzuvollziehen. Zwischen der Computer-/Let’s-Play-Gruppe unten und dem Cluster links befinden sich diverse „Wissens“-Kanäle, die von KenFM über RT Deutsch bis hin zu seriösen Angeboten wie DW DeutschARTE.de und Y-Kollektiv reichen. Die im kommenden Blogbeitrag folgende Empfehlungsauswertung wird zeigen, dass an dieser Stelle primär Dokumentationen und Wissensangebote zur Religion Islam, zum Leben als Muslim und zur politischen Einordnung des Islams von Interesse sind. Aber auch an dieser Stelle der Netzwerkgraphen fehlen Angebote, die am Islam interessierte Personen zielgruppenspezifisch zugeschnitten abfangen und islamistischen Angeboten, die es zuhauf gibt, eine Gegenerzählung gegenüberstellen.


Über die Autoren

Matthias Meyer ist Associate Fellow bei modus|zad und Initiator von Cluster, einem transparenten Nachrichtenaggregator. Matthias ist Geschichtswissenschaftler (B.A.) und Masterstudent der Informatik in Chemnitz. Er twittert unter @Matth_Meyer.

Till Baaken ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei modus|zad. Sein derzeitiger Arbeitsschwerpunkt liegt auf der Erforschung von Online (De-)Radikalisierung und von Prozessen individueller Distanzierung sowie im Monitoring der Peripherie des Extremismus Online. Till studierte in Berlin und London. Er ist Geschichtswissenschaftler und Ethnologe (B.A.) und Sozialwissenschaftler mit Fokus auf Terrorismus- und Sicherheitsstudien (M.A. Terrorism, Security & Society).

Neben seiner Tätigkeit für modus|zad ist Till Associate Fellow beim Global Network on Extremism and Technology (GNET) sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Violence Prevention Network. Er twittert unter @tillbaaken.