Level Up! Promising Practices: deras_on – Deradikalisierung Antisemitismus Online

Interview mit dem Projektteam

Ihr möchtet mit deras_on digital streetwork für Antisemit:innen auf Social Media betreiben, um im besten Fall ein Ausstiegsangebot zu machen. Könnt ihr näher berichten, wie das Projekt ursprünglich aufgesetzt war, was war die Zielsetzung?

deras_on: Also vielleicht nicht „für Antisemit:innen“, sondern mit ihnen und gegen Antisemitismus. Aber ja: Ursprünglich wollten wir uns vor allem auf den sogenannten Fringe sozialer Medien konzentrieren, das heißt auf ideologisch gefestigte Antsemit:innen, auch vor allem aus dem nazistischen Spektrum. Das hat damit zu tun, dass der Verbundpartner Drudel 11 e.V. schon langjährige Erfahrung in der Ausstiegsarbeit mit der extremen Rechten mitbringt – vor allem aber offline. Unser Ziel war und ist weiterhin, online auf antisemitische Aussagen zu reagieren. Wir wollen Ansprachen erproben, die einen Zugang zu den Klient:innen schaffen – eine Basis, auf der ein Gespräch aufbauen kann.

Aus verschiedenen Gründen musstet ihr eure Vorgehensweise für das Projekt anpassen. Bitte berichte, warum dies genau der Fall war und welche Anpassungen ihr vorgenommen habt.

deras_on: Wir mussten und müssen die Vorgehensweisen im Projekt laufend anpassen. Die Gründe dafür waren in Teilen erwartbar: Online Angesprochene reagieren oft gar nicht, öfter aber mit Aggression und Häme. Oder sie nehmen das sozialarbeiterische Interesse zum Anlass, in der Halböffentlichkeit von Telegram mit Sendungsbewusstsein nicht auf Argumente oder Nachfragen einzugehen, sondern mit noch mehr Desinformationen um sich zu schmeißen, die die Mitlesenden emotional mobilisieren sollen.

Und vor allem ist die digitale Distanz ein Hindernis. Sie verstärkt den Effekt, dass das sozialarbeiterische Gegenüber zur Projektionsfläche für alles Mögliche werden kann. Beziehungsarbeit ist so schwer zu machen. Außerdem sind die Leute ja nicht aus Jux in den entsprechenden Telegram-Gruppen. Sie glauben fest an die jüdische Weltverschwörung und ihre Teilnarrative von Kindermorden, Impfmorden etc.

Wir wollen nun bei den weniger gefestigten antisemitischen Gruppen und Usern in die Ansprachen gehen. Dazu rastern wir Telegram-Gruppen nach den Kategorien/Metaphern „Hölle“ und „Vorhölle“ und vermuten, dass in letzterer die Weltbilder noch nicht gänzlich geschlossen sind. Die antisemitischen Einstellungsmuster werden dort noch eher codiert und die Mitglieder sind (vermutlich) nicht Szene-gebunden. Dort könnten Ansprachen besser funktionieren.

Seit dem Massaker der Hamas nehmen die antisemitischen Aussagen online wie offline zu. Damit entstehen für uns mehr Ansprachemöglichkeiten. Es ist auffällig, dass man sich auch in den Telegramgruppen, in denen Antisemitismus mindestens geduldet wird, nicht einig ist – weder in der Bewertung des Nahostkonflikts im Allgemeinen noch des Kriegs im Speziellen. Die Positionen zum Krieg sind so vielfältig wie falsch. Manche sind offenbar rassistischer, als sie antisemitisch sind. Israel ist in ihrer Imagination ein weißer Ethnostaat, ein Bollwerk gegen Araber und Islam. Andere machen Israel selbst für den Terror verantwortlich oder wittern dahinter sogar eine gesteuerte Vertreibung der Palästinenser:innen gen Europa. So wiederholen sie die antisemitische Erzählung vom „großen Austausch“. Zwar gibt es in entsprechenden Telegramgruppen die Tendenz, dort alles schreiben zu dürfen: Sich scharf widersprechende Kommentare können nebeneinanderstehen – ohne Diskurs, Streit oder Ausschluss. Manchmal entstehen aber auch Diskursräume, in denen soziale Arbeit passieren kann.