Die Peripherie des Extremismus auf YouTube | Ein explorativer Blick auf die Technik I

Wenn man die Peripherie des Extremismus betrachtet, sind neben Inhalt, Formensprache und YouTube-Algorithmus auch die genutzten technischen Mittel relevant. Es stellt sich die Frage, wie versiert die Medienproduzenten im Bereich der Peripherie des Extremismus tatsächlich sind. Die Qualität und Machart der Videos hat Einfluss auf das rhetorisches Potential und die Überzeugungsfähigkeit der Creators. Yorck Beese von der Universität Mainz hat einen Blick auf zehn Videos geworfen und festgestellt, dass ein Trend zur Aneignung eines „Hollywood-Looks“ beobachtbar ist, der – vermeintlich – durch die Angebote des Einzelhandels (Aufnahme- und Abspielgeräte, Software) für alle Creators ermöglicht wird.

Im Rahmen der folgenden zwei Blogartikel werden wir aufzeigen, dass das Knowhow und die Detailgenauigkeit in der Praxis begrenzt sind. Es handelt sich nur an der Oberfläche um Kommunikation von Ideologie auf Kosten des „Hollywood-Looks“: Nach einer Analyse der technischen Aspekte der Videos lässt sich die These aufstellen, dass alle Produzenten motivierte „Heimanwender“ mit mehr oder weniger großen Mitteln bzw. Zugang zu Hard- und Software sind. Daraus ergeben sich vor allem drei mögliche Annahmen:

  • Die Kanäle benötigen keine umfangreichen finanziellen Mittel, wie zunächst angenommen. Alle hier betrachteten Kanäle nutzen Equipment im geschätzten Wert von 500 bis maximal 2.000 €, was dafür spricht, dass es sich entweder um motivierte Einzelne handelt, die sich das Equipment selbst bzw. durch Spenden finanzieren, oder dass eine Fremdfinanzierung sehr viele kleine Kanäle unterstützen kann.
  • Einige wenige Creators sind offenbar Heimanwender ohne Zugang zu besonderen Produktionsmitteln. Fehlt es diesen Videoproduzenten an hochwertigeren Kameras, Mikrofonen und Videoschnitt-Softwares, versuchen sie dennoch mit geringen Mitteln (z.B. Aneignung heruntergeladener Videos und Szenen aus Videospielen) eine vorgeblich hohe „cineastische“ Qualität zu erzielen.
  • Eine weiterführende Analyse kann Anhaltspunkte darüber bieten, welche Kanäle ähnliches Equipment nutzen, möglicherweise zusammenarbeiten oder gar identische Produzenten haben.

Macht’s Klick?

Aufgrund der Persönlichkeitsrechte sind alle Screenshots die Personen abbilden verpixelt.

Gemessen an seiner Abonnentenzahl ist der YouTube-Kanal Macht’s Klick? der zweitgrößte seiner Art. Er kann als ein Hybridkanal bezeichnet werden: Zwar werden weder Referenzen zu bekannten salafistischen Gelehrten noch zu Zitaten aus Koran und Sunna oder zu klassischen arabischen Begriffen hergestellt, in den Botschaften des Redners sind jedoch zumindest Teilelemente des Salafismus erkennbar (z.B. Koran und Sunna in literalistischer Lesart, Orientierung an den Sahaba, am Takfir und am Prinzip des al-wala wal-bara). Hauptprotagonist des Kanals ist ein junger ,türkischstämmiger Mann’, der vom Projekt ABAT als ein „Shooting Star“ der Szene eingeordnet wird. Bevorzugt widmet er sich den Themen Familie und Frauen im Islam. Er wendet sich dabei besonders gegen „progressive“ Muslime, die er als „die Verführer zur Sünde“ darstellt. Die Eindringlichkeit seines Vortragsstils ist die vornehmliche Stärke des Videoproduzenten, doch die Handhabung der Kamera- und Medientechnologie durch die Produzenten lässt deutliche Defizite in der filmkünstlerischen Kompetenz des verantwortlichen Videoproduzenten vermuten.

Formal konzentriert sich der Videoproduzent Macht’s Klick? darauf, den Rhetor durch Positionierung in thematischen Umgebungen, Kamerabewegungen und attraktive Schnitte zu inszenieren. Oberflächlich gelingt dies auch, so wie bspw. in Die Tür Allahs ist deine Hoffnung! (9.11.2019). Dieses Video verfügt über die verhältnismäßig großzügige Bildabmessung von 2560 x 1440 Bildpunkten (Seitenverhältnis 16:9) sowie eine Bildrate von 50 Bildern pro Sekunde (was dem Doppelten der europäischen PAL-Norm entspricht). Szenen wie diese, in denen der junge Redner gut ausgeleuchtet, mit zwei Mikrofonen vor sich in einer Moschee platziert ist und in einer Nahaufnahme frontal predigt, wirken bereits eindringlich auf den Blick der Zuschauer*innen. Diese Wirkung entfaltet sich umso mehr, als die Kamera immer wieder langsam an ihn heranzuzoomen scheint – ein filmischer Handgriff, durch den sich die Atmosphäre auch visuell verdichtet. Bereits an diesen knappen Beobachtungen lassen sich zentrale Probleme in der Medienpraxis von Macht’s Klick? aufzeigen, welche auf die Qualität von Kamera, Beleuchtung und Schnitt schließen lassen.

Bild

Erstens ist zwar die Bildrate von 50 Bildern pro Sekunde üppig, was auf eine Kamera im Preissegment um die 1000€ oder höher schließen lässt („Fortgeschrittenen-Segment“), jedoch können Verschlussrate und Bildrate pro Sekunde vor der Aufnahme nicht ausgewogen eingestellt worden sein. Das Ergebnis sind unnatürliche Bewegungseffekte bei schnellen Handgesten des Redners, die sich auch in der Nachbearbeitung nicht ausbessern lassen. Zweitens ist die Beleuchtung nicht ausgewogen, was sich an den starken „Highlights“ auf der Haut des Redners ablesen lässt. Die Reflexionen an der Wand im Hintergrund sowie die Lichtreflexionen in den Pupillen des Redners lassen vermuten, dass der Redner mit zwei intensiven bzw. zu nah platzierten Scheinwerfern (kaltes Licht) frontal ausgeleuchtet wird (die mutmaßlichen Kosten hierfür können bereits im niedrigen dreistelligen Bereich angesiedelt werden). Auch ist fraglich, ob der Kamera-Anwender einen Weißabgleich vorgenommen hat, durch den eine natürliche Farbabbildung gewährleistet worden wäre. Drittens befindet sich der Redner hinter einem Schwanenhalsmikrofon (offenbar Sennheiser MEG14-40 o.Ä., 200-400€, mit Empfänger bis zu 1000€) und trägt zudem ein Ansteckmikrofon (vermutlich Senn­heiser EW 112P G4, 600-1000€). Wahrscheinlich ist es das Ansteckmikrofon, das über eine kabellose Funkstrecke den Ton in die Videodatei schreibt, während das Schwanenhalsmikrofon zur Ausstattung der Moschee gehören dürfte und ansonsten keinem im Video erkennbaren Zweck dient, da ein Publikum weder gezeigt wird, noch hörbar ist. (Das Schwanenhalsmikrofon dient somit wahrscheinlich nur dem Zeigen des Predigers in der Moschee und damit der visuellen Konstruktion seiner vorgeblichen religiösen Autorität.)

Schnitt

Ein weiteres Problem der Aufnahmepraxis lässt sich am Schnitt erkennen, denn der Schnitt gleicht aus, was beim Dreh nicht besorgt wurde: Immer wieder wird auf Großaufnahmen („Cut In“) und zurück auf die halbnahe Einstellungsgröße geschnitten („Cut Out“), doch die Großaufnahme weist bei näherer Betrachtung Bildartefakte auf. Ein leicht erhöhtes Bildrauschen sowie subtile Banding-Effekte („Farbbänder“, „Farbstreifen“) auf dem Jackett des Redners legen nahe, dass Turgay Altıngeyik in diesem Video ausschließlich in der Halbnahen gefilmt wurde und das filmische Bild für alle Großaufnahmen (Cut Ins) nachträglich am Schneidetisch skaliert wurde (s. z.B. 2 Min 20 Sek). (Dieser Effekt ist nicht mit dem fortlaufenden mechanischen Zoom an der Kamera zu verwechseln. Der Kamera-Anwender dieses Videos verfügte wohl nur über eine einzige Kamera und hat während der Aufnahme keine Zooms durchgeführt.) Mit welcher Videoschnitt-Software Macht’s Klick? arbeitet, kann nicht mit Sicherheit erschlossen werden. Da jedoch erkennbar in hochwertigere Einzel- und Fachhandelsgeräte investiert wurde, ist denkbar, dass eine Software wie Adobe Premiere (25-60€ / mtl.) oder Final Cut Pro X (330€) zum Einsatz gekommen ist.

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Ein früheres Macht’s Klick?-Video mit dem Titel Wirst du deine Tränen bei diesem Video halten können? (13.10.2018) weist mit den auf YouTube angezeigten 60 Bildern pro Sekunde sogar eine noch höhere Bildrate auf. In diesem Video ist die Kamera in Bewegung, sanft und damit vermutlich auf einem Schwebestativ geführt (bereits ab 60-200€ möglich), sie erfasst den auf einer Parkbank sitzenden Redner durch Halbkreisbewegungen in wechselnden Aufnahmegrößen und Abständen. Die geringe Tiefenschärfe lässt Kenntnisse von Blendeneinstellungen an der Kamera vermuten. Der Kamera-Anwender ist oft darum bemüht, den Redner in einem bestimmten Bilddrittel zu halten, was zum gelingenden Schnitt einer szenischen Sequenz beiträgt. Die wohl nur bei natürlichem Licht gefilmte Szene inszeniert den Redner als nachdenklich auf einer Parkbank (motivisch einem Forrest Gump nicht unähnlich) und zugleich als einen Läuterer, den das tiefe Sonnenlicht bildsprachlich zu einem religiösen Symbol transformiert. Das einfallende natürliche Licht wird zur Metaphorisierung der Szene eingesetzt (Licht als Metapher für göttliche Präsenz). Über einen Weißabgleich durch den Kamera-Anwender lässt sich nichts Sicheres feststellen, wenngleich die sehr herbstliche Farbkomposition durch Presets aus der Videoschnitt-Software aufgewertet worden sein mag (erneut ist eine kostenpflichtige, vollwertige Software denkbar).

Bild

Betrachtet man die Videodatei genauer, stellt sich heraus, dass das Video nicht bei einer Bildrate von 60 Bildern pro Sekunde, sondern mit 59,94 Bildern pro Sekunde abspielt. Die Produzenten müssen ihre Kamera auf die amerikanische NTSC-Norm eingestellt haben (2 x 29,97 Bilder pro Sekunde), was durch YouTube lediglich nominell auf 60 Bilder pro Sekunde aufgewertet wird. Weshalb Videoproduzenten, die Videos für ein deutschsprachiges Publikum zusammenstellen, diese Norm verwenden, ist unklar. Womöglich haben sie die Bilder-pro-Sekunde-Rate erhöht, ohne eine angemessene Verschlussrate zu berechnen. Die Bewegungen des Redners wirken hier allerdings natürlicher, was darauf hinweist, dass die übrigen Bildparameter ausgewogener eingestellt worden sein müssen als in Die Tür Allahs ist deine Hoffnung!.

Schnitt

Aus den hörbaren Schnitten im Ton (z.B. bei 5 Min 34 Sek und 5 Min 21 Sek) ist zu schließen, dass der Ton nicht kontinuierlich abgenommen wurde und somit ein langer Take oder mehrere sehr lange Takes einer mehrfach vorgetragenen Rede zusammengeschnitten wurden. Auch wird das Ansteckmikrofon (wohl erneut Sennheiser) ohne Windschutz verwendet. Zudem wurde in der Praxis wohl sehr opportun gefilmt: Sowohl Windgeräusche als auch Flugzeuggeräusche sind zu hören, was auf eine wenig planvolle Durchführung des Drehs schließen lässt (ein professionelle Produktion hätte die Geräusche nicht aufgenommen oder das Video nachträglich neu vertont). Auch wird die Bildkomposition im Hintergrund gelegentlich durch die Abbildung parkender Autos gestört. Die technischen Vorteile, die einen besseren Bildfluss ermöglichen, werden also nicht vollends ausgespielt, da die Bild- und Tonkomposition punktuell von störenden Bild- und Tonzeichen durchbrochen wird. Bei Macht’s Klick? handelt es sich somit allen Anzeichen nach um motivierte Amateure mit Fortgeschrittenen-Equipment.

DMG e.V.

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Der YouTube-Kanal der in Braunschweig ansässigen DMG e.V. (https://dmg-bs.de/) kann filmsprachlich als ein eher nüchterner Kanal bezeichnet werden: Zahlreiche Vorträge und Predigten von wechselnden, mehr oder weniger bekannten Akteuren mit klarer Nähe zum Salafismus (z.B. Pierre Vogel, Marcel Krass) werden in langen Einstellungen und mit nur wenigen Schnitten dargeboten. Der Predigerstil ist „klassisch“ insofern der jeweilige Redner seinen Vortrag mit Fragen an das Publikum, verschiedenen Geschichten, etc. durchsetzt. Da die Vorträge erkennbar in Moscheen und anderen Vereinsgebäuden aufgezeichnet werden und die Aufzeichnungstechnik nicht verborgen wird, lassen sich einige relativ sichere Annahmen über die Medientechnik des DMG e.V. machen.

Bild

Das hier betrachtete Video mit dem Titel Wie stark prüft mich Allah (31.10.2019) spielt im Seitenverhältnis 1920 x 1080p bei 25 Bildern pro Sekunde, das Verhältnis der Bilder-pro-Sekunde-Rate zur Verschlussrate (Shutter Rate) scheint ausgewogen. Die Kamera, die vermutlich auf einem Stativ befestigt ist und keinerlei Bewegung aufweist, hat während der Aufnahme fortlaufend automatische Helligkeitsanpassungen vorgenommen, was sich in leichten Helligkeitsveränderungen während der gesamten Laufzeit äußert. Das hier zu beobachtende Seitenverhältnis ist bereits bei günstigen DSLR- oder DV-Kameras möglich (geschätzte Kosten je nach Zeitpunkt der Anschaffung: 350-750€). Der Eindruck, dass es sich um eine (erschwingliche) DSLR-Kamera handeln könnte, wird durch die abgebildeten Mikrofone gestärkt: Neben einem Ansteckmikrofon mit kabelloser Funkstrecke (vermutlich Sennheiser EW oder ME) ist dem Redner ein Canon WM-V1 Mikrofon an der linken Brusttasche befestigt. Dieses ist speziell für die Aufzeichnung des Redner-Tons mit Canon Kameras entwickelt worden (Kostenpunkt im Jahr 2015: ca. 200€).

Technik

Als Videoproduzent hat die DMG e.V. anhand dieses Beispiels lediglich in Medientechnologie investiert, die dem Preissegment für Anfänger entstammen dürfte. Über eine Kamera und zwei Mikrofone hinaus (eines für die Aufzeichnung des Tons in der Kamera, eines für den Ton im abgebildeten Versammlungsraum) dürften kaum weitere technische Geräte vorhanden sein: Der Schattenfall hinter dem Redner lässt vermuten, dass lediglich das Raumlicht zur Beleuchtung eingesetzt wurde, und dass eine Lichtaussteuerung ausschließlich über die Kamera-Settings erfolgte. Zusammen mit einem Schnittprogramm, das lediglich für Texteinblendungen und gelegentliche Schnitte eingesetzt wird, mag die DMG e.V. auch im Jahr 2015 für ihr technisches Setup schätzungsweise insgesamt weniger als 1.000€ ausgegeben haben.

Bereits an diesen Beispielen ist zu erkennen, wie hilfreich eine Analyse der Videos aus Sicht der Filmsemiotik bzw. technischen Perspektive ist. Ein genauer Blick auf Equipment, Schnitt, Bildbearbeitungsprogramme und Einstellungen verrät Vieles über die Kanäle, was für ungeübte Zuschauer*innen nicht sichtbar ist. Eine interdisziplinäre Arbeitsweise in einem Team mit verschiedenen Hintergründen und externen Expert*innen war und ist weiterhin die Grundlage vom Projekt ABAT. Im kommenden Blogbeitrag wird diese Analyse von Yorck Beese und Till Baaken weitergeführt und die Kanäle sowie ihr Equipment von u.a. Marcel Krass, Generation Islam und Botschaft des Islam betrachtet.


Über die Autoren

Yorck Beese M.A. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Nachwuchsforscher*innengruppe Dschihadismus im Internet (BMBF). Seine Forschungsinteressen bestehen in den Bereichen der Filmsemiotik, Propagandaforschung und Kommunikation von Ideologie durch das Medium Film.

Till Baaken ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei modus|zad. Sein derzeitiger Arbeitsschwerpunkt liegt auf der Erforschung von Online (De-)Radikalisierung und von Prozessen individueller Distanzierung sowie im Monitoring der Peripherie des Extremismus Online. Till studierte in Berlin und London. Er ist Geschichtswissenschaftler und Ethnologe (B.A.) und Sozialwissenschaftler mit Fokus auf Terrorismus- und Sicherheitsstudien (M.A. Terrorism, Security & Society).

Neben seiner Tätigkeit für modus|zad ist Till Associate Fellow beim Global Network on Extremism and Technology (GNET) sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Violence Prevention Network. Er twittert unter @tillbaaken.