Türkischer Sprachgebrauch und zentrale Erkenntnisse des Monitorings
18.12.20244. Blogpost im Projekt TREX
Die Dominanz der türkischen Sprache im türkischen Ultranationalismus auf TikTok
Dieser vierte und abschließende Blogpost widmet sich einer tiefergehenden quantitativen Sprachanalyse auf TikTok sowie einer abschließenden Zusammenfassung der Erkenntnisse aus dem projektinternen Social-Media-Monitoring im Jahr 2024. Die Analyse des Sprachgebrauchs ergibt, dass die überwiegende Mehrheit der türkisch ultranationalistischen TikTok-Inhalte unseres Samples in türkischer Sprache veröffentlicht werden, gleichwohl viele der Accounts nicht als türkisch registriert sind. Unser Sample besteht im Kern aus 33 identifizierten Accounts, die auf TikTok, maßgeblich und regelmäßig türkischen ultranationalistischen Content verbreiteten. Um aussagekräftigere Aussagen über die in den Videos verwendeten Sprachen treffen zu können, wurde auf Basis der Metadaten der von den 33 Accounts veröffentlichten Videos eine Liste, der am häufigsten genutzten 510 Hashtags erstellt. Diese Hashtags wurden anschließend nach ihrer thematischen Verbindung zum türkischen Ultranationalismus gefiltert. Daraufhin wurden ebenfalls die Metadaten der jeweils ersten 1000 Videos pro Hashtag in der TikTok-Suche analysiert. Da nicht für alle Hashtags 1000 Videos gefunden wurden und es zahlreiche Doppelungen gab, entstand am Ende des Prozesses eine Liste von 3528 Videos von insgesamt 394 Accounts. Auf diesen basieren die folgenden Analysen.
Für die Zuordnung von Accounts zu Ländern wurde die in den Metadaten hinterlegte Information „region“ genutzt. Durch eine automatisierte Transkription aller Videos wurde die verwendete Sprache pro Video festgestellt. Tabelle 1 und Abbildung 1 zeigen die Verteilung der häufigsten verwendeten Sprachen für die relevantesten Länder der User*innen für alle Videos im Sample. Dabei ist zu beachten, dass die automatische Transkription auch etwa die Sprache von Hintergrundmusik erkennen kann und nicht unbedingt die eines gesprochenen Inhalts darstellen muss. Mit TR, DE, AT, KZ und AZ werden die Ländercodes Türkei, Deutschland, Österreich, Kasachstan und Aserbaidschan beschrieben.
Die Abbildung 1 zeigt demnach, dass in unserem Sample als türkisch markierte Accounts 80,3 % der Videos in türkischer Sprache posten und 13 % der Videos auf Englisch. Eine interessante Erkenntnis ist, dass die als deutsch markierten Accounts 66,3 % ihrer Videos auf türkischer Sprache posten und nur 17,9 % der Videos auf Deutsch.
Wichtig zu erwähnen, bleibt jedoch, dass das hier vorliegende Sample ein Bias durch die zuvor ausgewählten Accounts mit Deutschlandbezug hat. Ebenfalls auffällig ist, dass nur ein sehr kleiner Teil der Videos auf Arabisch gepostet wird. Die hohe Anzahl russischer Videos aus Kasachstan ist damit zu begründen, dass dort große Teile der Bevölkerung russisch sprechen und in Aserbaidschan große Teile türkisch.
Ein ähnliches Bild zeigt sich auch bei einer Trennung der Videos nach der Sprache von Hashtags. Dazu wurden Hashtags nach „deutsch/deutsche Schreibweise türkischer Worte“ gelabelt. Abbildung 2 zeigt in gelb den Anteil von deutschsprachigen Videos unter den Videos, die mindestens einen als „deutsch“ gelabelten Hashtag nutzen. In nur 21,3 % dieser Videos erkennt die automatische Transkription der Tonspur deutsche Sprache, in knapp 60 % hingegen die türkische Sprache.
Im Vergleich zeigt Abbildung 3 die Verteilung der erkannten Sprachen für die Videos, die keinerlei Hashtags in deutscher Sprache oder mit deutschem Alphabet nutzen. Unter diesen Videos werden nur 9,7 % als deutschsprachig erkannt, rund zwei Drittel hingegen als Türkisch. Dies verdeutlicht, dass trotz internationaler Vernetzung oder Registrierung von Accounts die Inhalte immer noch die Gemeinsamkeit der türkischen Sprache aufweisen.
Es lässt sich daraus schließen, dass in unserem Sample weder die von TikTok ausgewiesene Region des Accounts noch die Sprache der verwendeten Hashtags eindeutig auf die Sprache des Inhalts schließen lassen, was die Notwendigkeit eines multilingualen Teams bei der Auswertung derartiger Inhalte unterstreicht. Klar wird zudem, dass es in der Praxis für nicht-türkischsprachige Personen unmöglich ist, die Inhalte auf TikTok nachzuvollziehen oder konkret die gesamte Online-Aktivitäten der Accounts einzuschätzen. Letztlich unterstreicht die Verbreitung und Sprachwahl türkisch die transnationale Bedeutung ultranationalistisch aufgeladener Narrative innerhalb der türkischen Diaspora und verdeutlichen die Rolle von Medien als Verstärker solcher Identifikationen und ideologischen Verknüpfungen.
Die verschiedenen Grafiken zeigen, dass die türkische Sprache auch im internationalen Kontext die meistverwendete Sprache ist (Tabelle 1, Abb. 1, 2, 3), wobei die verschiedenen Turksprachen (z.B. Türkei, Kasachstan, Aserbaidschan) und die geringen Türkischkenntnisse (Türkei-Türkisch) der Diaspora eine vollständige Verständigung untereinander erschweren können. Die Ergebnisse der Analyse zeigen aber, dass trotz der sprachlichen Unterschiede die türkische Sprache aufgrund ihrer vorherrschenden Verwendung im Zusammenhang mit türkisch-ultranationalistischen Inhalten eine Vernetzung auch über nationale Grenzen hinweg erzeugen kann.
Ungeachtet ihrer verschiedenen Standorte, die unterschiedliche Alltagswelten mit sich bringen, kann die Verbindung über soziale Medien für User*innen eine virtuelle Vereinigung schaffen, in der Ähnlich denkende eine Mehrheit bilden und eine Zugehörigkeit erfahren, die in den jeweiligen analogen Kontexten nicht gegeben ist. Davon ausgehend besteht die potenzielle Gefahr einer „Online-Rekrutierung“ von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Es ist daher ratsam, sowohl für die Forschung als auch für die Umsetzung von Präventionsmaßnahmen auf ein breit aufgestelltes Team zurückzugreifen, in dem vor allem türkische Sprachkenntnisse vorhanden sind. Darüber hinaus sind Fachkenntnisse im Themenfeld notwendig, um inhaltliche Gemeinsamkeiten, Unterschiede sowie phänomenspezifische Codes zu erkennen und adäquat einordnen zu können. Damit wird auch der Gefahr einer Pauschalisierung vorgebeugt, die zu einem zusätzlichen Problemfeld führen kann, indem von der Mehrheitsgesellschaft ausgehender Rassismus gegenüber Menschen mit Türkeibezug reproduziert wird.
Zusammenfassung der TREX-Monitoringergebnisse 2024
Das projektinterne Monitoring im Jahr 2024 verschaffte Einblicke in die Instrumentalisierung politisch-gesellschaftlicher Ereignisse sowie einen Überblick der Szene in des türkischen Ultranationalismus auf TikTok.
Die Monitoringergebnisse zeigen, dass vor allem zwei Strömungen im Phänomenbereich türkischer Ultranationalismus auf TikTok besonders verbreitet sind. Die beiden Strömungen zeichnen sich zum einen durch einen religiösen und zum anderen durch einen ethnischen Schwerpunkt aus. Bei der ersten Strömung handelt es sich um den islamisch geprägten Ultranationalismus (türkisch-islamische Synthese) (Bozay, TREX-Projektteam 2024, S. 6-8), für dessen Anhängerschaft derzeit Recep Tayyip Erdoğan als Leitfigur gilt. Die zweite Strömung vertritt jene Form des Ultranationalismus, die sich stark auf die türkische Ethnie und Nation bezieht (Panturanismus) und Elemente des türkischen Nationalstolzes wie den hohen Stellenwert von Polizei und Militär, das Symbol des Wolfes und einen Personenkult wie den um Alparslan Türkeş1 und Mustafa Kemal Atatürk2 in den Vordergrund stellt. Die analysierten Inhalte auf der Plattform TikTok zeigen eine inhaltliche Zweiteilung der Ausrichtung der User*innen, die sich pro-Atatürk oder pro-Erdoğan positionieren (TREX-Projektteam 2024, 2. Blogpost).
Diese beiden Cluster sind jedoch nicht strikt voneinander zu trennen, weshalb beide Strömungen teilweise auch in Kombination auftreten. Gemeinsamer Nenner aller Ausrichtungen ist der Konsens über eine türkische Nation als ein untrennbares Einheitskonstrukt und die türkische Sprache. Darüber hinaus wird an den Aktivitäten auf TikTok deutlich, dass ein großes Interesse und ein Bedürfnis der User*innen an der türkischen Geschichte vorhanden sind, die Gegenstand von Diskussionen sind. Das reproduzierte Wissen orientiert sich jedoch weniger an historischen Fakten als an den Narrativen der Leitfiguren der jeweiligen Abspaltung, bei denen es sich zumeist um Erdoğan, Atatürk, Alparslan Türkeş und andere wichtigen Persönlichkeiten handelt. Aktuell wird der türkische Ultranationalismus in der TikTok-Szene von der türkisch-islamischen Synthese dominiert, die derzeit unter anderem von Recep Tayyip Erdoğan und seiner Osmanisierungspolitik getragen wird. Themen, die er im politischen Alltag aufgreift, sind durch seine Sympathisant*innen auch auf TikTok präsent. Dazu gehört besonders seit dem 7. Oktober 2023 der Nahostkonflikts, bei dem Israel als „Terrorstaat“ bezeichnet wird, eine ausgeprägte Ablehnung des sog. Westens und das Argument einer „westlichen Doppelmoral“ angeführt wird. Darüber hinaus findet eine Verherrlichung des Osmanischen Reiches als politisches Vorbild statt.
Eine weitere Beobachtung unseres Monitorings ergibt, dass die Attraktivität von ultranationalistischen Inhalten türkischer Prägung auf TikTok nach gesellschaftlichen Ereignissen wie den Entwicklungen rund um den Fußballspieler Merih Demiral während der EM 2024 deutlich zunimmt. In diesem Zeitraum veröffentlichten vermehrt Accounts, die zuvor kaum oder gar keinen ultranationalistischen Content gepostet hatten, entsprechende einschlägige Inhalte (TREX-Projektteam 2024, 3. Blogpost). Dabei wurden Bilder vom „Grauen Wolf“ und das Narrativ vom Symbol „türkischen Nationalstolzes“ reproduziert und entsprechend Demiral als „Nationalheld“ postuliert. Die politischen und gesellschaftlichen Diskussionen zum Eklat in Deutschland wurden als „westlicher Rassismus“ verhandelt. Die Verbreitung dieses Narrativs diente dazu, bestehende Welt- und Feindbilder zu bestätigen. Der „Westen“ wird hier oft als moralisch heuchlerisch oder gar abwertend gegenüber der türkischen Identität dargestellt, was die Narrative von Doppelstandards und Antagonismus fördert. Gleichzeitig wird das Bild des „starken Türken“ im Widerstand gezeichnet, der sich gegen diese vermeintliche westliche Ungerechtigkeit behauptet. Demnach ist eine enge Verbundenheit mit der Türkei, ihrer Geschichte und der eigenen Identifikation als Türk*innen/Türkeistämmige zu bemerken. (TREX-Projektteam 2024, 3. Blogpost).
Abschließend gilt festzuhalten, dass die Accounts und Kanälen, die eine Nähe zum türkischen Ultranationalismus aufweisen, häufig nicht lange online existieren. Meist handelt es sich bei unserem Sample um vermutlich privat geführte Accounts, deren Inhalte oder der Account selbst nach kurzer Zeit wieder gelöscht werden. Die Inhalte sind meist mit rassistischen und antisemitischen Beiträgen gezeichnet, was zu kontroversen Diskussionen in den Kommentarspalten führt, wo nicht nur Reaktionen von Gleichgesinnten, sondern auch von Nutzer*innen aus anderen Regionen und Abspaltungen der türk. Ultranat. Szene etc. zu beobachten sind. Für ein weiterführendes Monitoring im Phänomenbereich türkischer Ultranationalismus wäre daher eine Analyse der Rezipient*innenebene empfehlenswert. Denn das Gefährdungspotenzial im Sinne der Radikalisierung, welches von spezifischen Inhalten ausgeht, kann letztendlich nur untersucht werden, wenn in der Analyse nicht nur die extremistischen Inhalte selbst, sondern auch die Reaktion auf diese Inhalte mit einbezogen werden.
Die Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung des BMFSFJ oder des BAFzA dar. Für inhaltliche Aussagen tragen die Autor*innen die Verantwortung.
Das Projekt TREX wird gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“.