Die Peripherie des Extremismus auf YouTube | Das Peripheriecluster: Eine digitale islamistisch-salafistische Ummah?

Die explorative Studie ABAT hat auf YouTube ein Konglomerat an Kanälen identifiziert, das auf der Basis einer Netzwerkanalyse eindeutig eine Informationsblase bildet. Innerhalb dieser Blase werden islamisch-sunnitische Inhalte verbreitet, die allesamt als nicht-dschihadistisch einzustufen sind. Ein vorläufiges First Impression Screening (FIS) führte zur Arbeitshypothese, dass es sich bei den ca. 200 gesammelten YouTube Kanälen um ein Cluster handelt, das vorläufig mit dem Arbeitsbegriff einer „Peripherie des religiös begründeten Extremismus“ bezeichnet werden kann. Dabei stellte sich in einer tiefergehenden qualitativen inhaltlichen Analyse heraus, dass die Top 25 Kanäle dieses Clusters in ihrer diversen Zusammensetzung pauschal weder als „islamistisch“ noch „salafistisch“ charakterisierbar sind. Es handelt sich quasi um eine Mischzone, in der auf der Inhaltsebene moderatere, islamische Glaubensaussagen und Frömmigkeitsideale neben radikalen und stellenweise auch extremistischen Positionen stehen. Im Oktober 2019 setzt sich das Cluster der Top 25 aus folgenden Kanälen zusammen:

Kanal
Abonnenten: (16.10.2019)
Botschaft des Islam
143.000
Machts Klick?
88.400
Lorans Yusuf
58.100
PierreVogelDE
45.500
IMAN TV
39.600
Generation Islam
34.300
Der Islam verbindet
32.600
Hindenburgstrasse
31.600
Pierre Vogel Abu Hamza Offical Page (pierrevogelDE1)
31.500
STAR MOON Islam
28.700
Fitrah Dawah
27.100
Young Muslim
24.900
Wissen für alle (sh. Abdellatif)
21.000
Habibiflo Dawah Produktion
15.300
 
 
Warum Islam
11.500
Realität Islam
11.300
Abul Baraa Tube
10.800
Marcel Krass
9.710
Die einzige Wahrheit
8.510
HAQQ Analytics
9.130
Stimme der Gelehrten
8.930
FlaggeDerSunna
8.120
Einladung zum Erfolg CH
8.130
Tabelle: Aktuelle Top 24 des Peripherieclusters

Drei Gruppen innerhalb des Peripherieclusters

Im Sinne der projektleitenden Prämisse „do no harm!“ stehen die Projektdurchführenden daher vor den besonderen Herausforderungen, für die Spezifizierung dieser Kanäle zutreffende Kriterien, Definitionen und eine angemessene Sprache der Beschreibung zu finden. Aus diesen theoretischen Vorüberlegungen und der bisherigen Auswertung der qualifizierten inhaltlichen Analysen der Top 25 Kanäle des Peripherieclusters resultiert eine vorläufige Einordnung der Kanalsammlung, die im Folgenden näher begründet wird:

  1. Kanäle, die eindeutig salafistisch geprägte Inhalte verbreiten, auf denen auch bekannte Akteure des salafistischen Milieus in Deutschland aktiv sind.
  2. Eindeutig islamistisch geprägte Kanäle der Hizb ut-Tahrir Bewegung.
  3. Kanäle, in deren verbreiteten Inhalten zumindest Versatzstücke islamistischer oder salafistischer Glaubensüberzeugungen deutlich werden. Wir kennzeichnen sie im Folgenden als hybride Missionskanäle bzw. Hybridkanäle.

Alle drei Gruppen können in weitere Unterkategorien auf der Akteurs- und Kanalebene differenziert werden. So ist es z.B. sinnvoll, in der ersten Gruppe zwischen der Vernetzung des salafistischen Trios Pierre Vogel, Marcel Krass und Abul Baraa zu unterscheiden, die offenbar enger zusammen agieren und anderen salafistischen Predigern, die eher isoliert agieren. In der Gruppe der islamistischen Kanäle sollte man zudem neben der Hizb ut-Tahrir auch auf Kanäle achten, die vom türkisch-nationalistischen Islamismus bestimmt werden. Darüber hinaus ist für alle drei Kanalgruppen noch die erweiterte transnationale Perspektive wichtig, z.B. mögliche Einflüsse aus Großbritannien, der Balkanregion, Saudi-Arabien und den Golfstaaten.

Themenzentriertes Verhalten der User*innen

Die bisherigen Analysen zeigen jedoch auch, dass für das Publikum dieser Informationsblase, diese Unterscheidungen vermutlich nicht wesentlich für ihre Suche und ihre Präferenzen sind. Vielmehr interessieren sich die YouTube User*innen in diesem Peripheriecluster für die behandelten Themen und Inhalte. Viele User*innen sehen Videos diverser Kanäle und wechseln zwischen den Kanälen aus allen drei Gruppen. Daher wird für den weiteren Verlauf dieser explorativen Studie die kanalübergreifende themenzentrierte Inhaltsanalyse als der vielversprechendste Ansatz für eine zutreffende Einstufung intensiviert. Zwei Fragen können bei dem aktuellen Stand der explorativen Studie ABAT bereits geklärt werden:

  1. Welche Gemeinsamkeiten haben die drei identifizierten Kanalgruppen?
  2. Welche inhaltlichen Orientierungen geben die Hybridkanäle der dritten Gruppe, die nicht eindeutig mit den bisher gängigen Kategorien eingestuft werden können?

Inhaltliche Gemeinsamkeiten der Top 25 innerhalb des Peripherieclusters

Beim aktuellen Stand der explorativen Studie ergibt sich das folgende vorläufige zusammenfassende Bild: Sämtliche Top 25 Kanäle im Peripheriecluster sind stark missionarisch islamisch aktiv und grundsätzlich im sunnitischen Islam verwurzelt. Auf den ersten Blick erscheinen die Titel und Themen vieler Videos sehr unverfänglich. Nach dem FIS ergibt sich jedoch folgende Charakterisierung:

Die Mehrzahl der Videos sind nicht-dschihadistisch, antischiitisch und lehnen sufische Glaubensformen als Unglaube ab. Einen gleichberechtigten Dialog bzw. einen Trialog auf Augenhöhe mit Christen und Juden, wie sie nach den Prämissen verschiedener christlicher, jüdischer und muslimischer Institutionen und Akteure formuliert werden, wird in den Videobeiträgen im Cluster der Top 25 abgelehnt. Geschlechtertrennung und Verschleierung werden als Gottes Wille gepredigt. Grundsätzlich wird den öffentlichen Medien in Deutschland ein islamfeindliches Verhalten mit falschen Darstellungen des Islams und einer Verschleierungstaktik zu Vorfällen der Diskriminierung von Muslim*innen sowie Islamhetze unterstellt. Weiterhin werden die neu gegründeten islamischen Institute und ihre Lehrenden in Deutschland angegriffen. Allgemein prägend ist auch ein kritisches oder sogar ablehnendes Verständnis gegenüber dem deutschen Schul- und Universitätssystem.

Im Rahmen vieler Videos werden zudem Krisen auf der persönlichen-individuellen, familiären oder gesellschaftlichen Ebene diagnostiziert. Die Gefahr, als Sünder*in zu sterben und im Jüngsten Gericht verurteilt zu werden sowie die Vorzüge des Paradieses werden in diesem Zusammenhang gerne bemüht. Die Apokalypse und die ständig drohenden Strafen der Hölle sind zentrale argumentative Elemente. Angesprochen werden schwerpunktmäßig nicht nur Jugendliche, sondern auch junge Erwachsene und Familien zumeist mit Migrationshintergrund aus islamisch geprägten Ländern. Viele Videobeiträge setzen ein kulturell auch in der Türkei verwurzeltes Publikum voraus.

Die bisherige Sichtung von Videomaterial ergibt in der Themenbehandlung ein sehr einheitliches Spektrum von klaren Antworten, was im Islam geboten und was verboten sei. Die Prediger und Vortragenden sind, soweit bislang erfasst, ausschließlich Männer, die mit einem sehr autoritären Sendungsbewusstsein auftreten. In ihren Predigten behaupten sie, die „einzige wahre Lehre des Islams“ zu verkünden. Da die theologische Ausbildung und Referenzen der Prediger häufig unbekannt bleiben, erfolgt ihre Anerkennung offenbar durch die Akzeptanz und Beliebtheit bei ihrem YouTube Publikum. Vergleicht man zusammenfassend diese Auflistung von Merkmalen, so stimmen viele Punkte mit der Charakterisierung überein, wie sie z.B. von Rauf Ceylan und Michael Kiefer für salafistische Strömungen in Deutschland beschrieben werden. [1]

Die hybriden Kanäle

Neben den zuvor genannten Gemeinsamkeiten aller Top 25 Kanäle des Peripherieclusters, zeigt die dritte Gruppe von Kanälen, der nicht eindeutig salafistische und islamistische Kanälen zuzuordnen sind, einige Besonderheiten. Zu ihnen gehören z.B. zwei der drei beliebtesten Kanäle des Peripherieclusters: Botschaft des Islam und Machts Klick?. Während die Videos von Botschaft des Islam nicht von einer einzelnen Persönlichkeit geprägt werden, dominiert Turgay Altıngeyik als zentraler Prediger die Beiträge von Machts Klick?. Die Vernetzung dieser beiden Kanäle innerhalb des Peripherieclusters und darüber hinaus in den Sozialen Medien bleibt bislang unklar. Für den dritten Kanal der Top 3, Lorans Yusuf, der ebenfalls anonym, ohne einen zentralen Prediger arbeitet, weisen dagegen Indizien auf das türkisch-islamistische bzw. nationalistische Milieu um die Prediger Nureddin Yıldız und Erden Karsli hin.

In der Gruppe der Hybridkanäle wird, wie in den anderen Gruppen, religiös auf der Basis von Koran und Sunna argumentiert. Gelegentlich sind auch Verweise auf anerkannte klassische sunnitische Lehrwerke oder Hadith-Sammlungen zu hören. Bislang finden sich in der qualitativen Auswertung jedoch keine Hinweise auf beliebte Werke oder Gelehrte aus dem salafistischen Spektrum, was als Zeichen der Legitimation und guter Argumentation für die Gruppe der salafistischen und islamistischen Kanäle typisch ist. Entsprechend selten wird daher auch mit arabischen Begriffe, wie z.B. aqidamanhadjtakfir oder tauhid argumentiert, die ebenfalls für salafistische Beiträge bislang zentral sind und dort häufig erklärt oder genannt werden. [2]

Dennoch weisen viele Aussagen auf Merkmale salafistischer Glaubens- und Lebensdeutung hin. Takfir wird z.B. in den Inhalten der genannten Kanäle nicht erwähnt, aber praktisch permanent praktiziert, indem all diejenigen, die den propagierten Glaubensaussagen nicht zustimmen, als Ungläubige und Sünder*innen verurteilt werden. Auch die salafistische Doktrin von Loyalität und Lossagung bzw. Assoziation und Dissoziation (al-walāᵓ wa-l barāᵓ) wird als Handlungsanweisung praktisch umgesetzt, ohne genannt zu werden. Apokalyptische islamische Vorstellungen und die drohenden Strafen der Hölle sind ebenfalls ein roter Faden in vielen Videos. In den themenzentrierten Analysen der folgenden Blogbeiträge werden diese ersten aus dem FIS gewonnenen Eindrücke und Thesen kritisch überprüft und weiter vertieft werden.

Die klaren, einfachen Handlungsanweisungen und Ratschläge in den Hybridkanälen basieren zudem, wie die Videos der ersten beiden Gruppen, auf einem dichotomen Weltbild von Richtig und Falsch, Gut und Böse, Wir und Ihr, Gläubige und Ungläubige. Die verkündeten Ermahnungen lassen keine Spielräume für Reflexionen. Hinweise auf weitere Optionen, die man als nach einer Antwort Suchender auch in Betracht ziehen sollte, geben Hybridkanäle nicht. Es gilt: Eindeutigkeit statt Mehrdeutigkeit.

Die bislang untersuchten Videos von Hybridkanälen halten sich zudem mit politischen Stellungnahmen zurück. Ihre Botschaften sind von missionarischem Sendungsbewusstsein geprägt und in vielen Videos auf islamische Lebenshilfe, Seelsorge und die Entwicklung einer gleichförmigen Frömmigkeit ausgerichtet. Beim derzeitigen Stand der Analyse erscheinen daher die Inhalte der hybriden Kanäle vom salafistischen und wahhabitischen Denken geprägt zu sein, wobei es viele Anknüpfungspunkte zu allgemein verbreiteten innerislamischen fundamentalistischen, konservativen oder orthodoxen Moralvorstellungen und Theologien gibt.

Die Hybridkanäle zählen nicht nur zu den beliebtesten Kanälen innerhalb des Peripherieclusters. Sie stehen auch in ihrer Vernetzung in einer Außenposition zum Kern des Peripherieclusters, das durch eindeutig identifizierbare salafistische und islamistische Kanäle dominiert wird. Ihre Position in der Netzwerkkarte der Netzwerkanalyse zeigt zudem deutlich eine Mittlerposition zu den erweiterten Interessensgebieten der User*innen des Peripherieclusters außerhalb des Clusters. Die hybriden Kanäle Machts Klick? und Botschaft des Islam scheinen daher als wichtigste „Gateway“-Kanäle, bzw. Zugangskanäle zu fungieren, da sie als populärste Kanäle innerhalb des Peripherieclusters des religiös begründeten Extremismus sehr gut etabliert sind. Darüber hinaus werden sie auch jenseits der Peripherie rezipiert und sind offenbar auch dort sehr populär. Ob sie tatsächlich einen Zugang und Einstieg in das radikale und extremistische islamische Milieu fördern, muss in den zukünftigen Analysen noch genauer überprüft werden.

Weitere themenzentrierte Analysen im Peripheriecluster werden wahrscheinlich ein differenzierteres Bild dieser ersten Orientierungen und Thesen ergeben und möglicherweise noch weitere Themen und Kampagnenblöcke zum Vorschein bringen. Insgesamt begegnet den User*innen innerhalb des Peripherieclusters, beim aktuellen Stand der Analysen, eine sehr homogene Islaminterpretation ohne große Widersprüche und Spannungen, wie sie im breiten Spektrum des Islams außerhalb dieser Informationsblase und im realweltlichen Kontext seit der Entstehung des Islams prägend sind. Dieses deutschsprachige Cluster ist auf dem besten Wege, eine digitale Ummah mit einem einheitlichen Islamverständnis zu etablieren, das sehr nahe an den Wunschvorstellungen salafistischer Ideale heranreicht. Zudem scheint, zumindest auf YouTube, dieses Cluster die Informationen zum Islam zu dominieren.

Über den Autor

Dr. Friedhelm Hartwig ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei modus|zad. Er realisierte gemeinsam mit Till Baaken das Projekt ABAT und ist aktuell im Projekt KorRex tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Forschung an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis, im Online Monitoring und dem beschleunigten Wissenstransfer sowie der Konzeption neuer Projekte. Sein besonderes wissenschaftliches Interesse gilt der Analyse von Brückennarrativen und internationalen Vernetzungen des Extremismus. Friedhelm studierte Islamwissenschaften, Arabistik und evangelische Theologie in Bochum und promovierte am Graduiertenkolleg für gegenwartsbezogene Orientforschung in Bamberg. Anschließend arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Moderner Orient in Berlin. Von 2016 bis 2018 ist er in mehreren Online-Präventionsprojekten für Violence Prevention Network tätig gewesen.